Warum die STILLE STUNDE für sensible Menschen so wichtig ist

(Von Gabor Paranai) Die Stille Stunde ist eine Idee, die von immer mehr Menschen und Unternehmen aufgegriffen wird. Davon profitieren insbesondere hochsensible Menschen.
Besonders Hochsensible nehmen mehr Reize aus ihrer Umwelt auf als andere. Geräusche, Licht, Gerüche, Bewegungen – all das wird intensiver wahrgenommen.
Diese besondere Form der Wahrnehmung ist keine Schwäche, sondern eine Gabe.
Eine Art sechster Sinn, der es ermöglicht, feinste Veränderungen zu spüren und Zusammenhänge intuitiv zu erfassen. Doch diese Fähigkeit bringt auch Herausforderungen mit sich – besonders in einer lauten, schnellen Welt. Genau hier setzt die Stille Stunde an.
Warum betrifft die Stille Stunde besonders hochsensible Menschen?
Das Nervensystem hochsensibler Menschen arbeitet anders. Schon ab der Geburt wird ihr Gehirn stärker beansprucht, da es nicht nur auf die bekannten fünf Sinne reagiert, sondern auch auf subtile Informationen aus Umgebung und zwischenmenschlicher Dynamik. Diese ständige Reizaufnahme führt dazu, dass sie schneller überfordert sind, wenn sie sich in reizintensiven Situationen befinden – zum Beispiel beim Einkaufen, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder an lauten Arbeitsplätzen.
Die stille Stunde – ein Zeitraum, in dem Licht, Lautstärke und Betriebsamkeit bewusst reduziert werden – kann für diese Menschen eine große Erleichterung bedeuten.
Sie ermöglicht Teilhabe ohne Überforderung. Und genau darum geht es: Teilhabe für alle.
Was die Stille Stunde für Hochsensible im Alltag bedeutet
Für viele hochsensible Menschen ist die permanente Reizflut im Alltag eine stille Belastung. Sie fühlen sich in Einkaufszentren, Großraumbüros oder öffentlichen Verkehrsmitteln schnell überreizt. Der Körper ist im Alarmzustand, obwohl keine sichtbare Gefahr besteht.
Was andere als „normal“ empfinden, kann für HSP körperlich und psychisch herausfordernd sein.
Kopfschmerzen, Nervosität, Schlafstörungen oder Rückzug sind oft die Folge.
Viele lernen im Laufe ihres Lebens, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Sie vermeiden bestimmte Orte, entwickeln Strategien zur Reizvermeidung, oder ziehen sich bewusst zurück. Doch dieser Rückzug ist keine echte Lösung – sondern oft eine stille Not. Denn das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Teilhabe und Sicherheit bleibt bestehen.
Viele Menschen mit hoher Sensibilität meiden belebte Orte.
Sie gehen nicht einkaufen, wenn es voll ist. Sie verlassen Veranstaltungen früher. Oder sie wirken angespannt, wenn viele Sinneseindrücke gleichzeitig auf sie einwirken. Diese Form der Rücksicht auf sich selbst ist klug – aber oft auch mit Einschränkungen verbunden. Lebensqualität geht verloren, weil der Alltag zu anstrengend ist.
Wenn man bedenkt, dass Menschen im Autismus-Spektrum oder mit ADHS ganz ähnliche Reizverarbeitungsthemen haben, wird klar: Reizreduktion nützt vielen. Eine schwedische Studie hat gezeigt, dass Menschen mit Autismus ein bis zu zehnfach erhöhtes Suizidrisiko haben – besonders dann, wenn ihre Besonderheit äußerlich nicht sichtbar ist.
Eine stille Stunde ist daher kein Luxus.
Sondern kann im wahrsten Sinne des Wortes entlastend und lebenswichtig sein.
Was sich verändern kann – und schon verändert
Die stille Stunde stammt ursprünglich aus Neuseeland. Der Vater eines autistischen Kindes wollte seinem Sohn das Einkaufen erleichtern – und sprach mit dem Supermarktleiter. Daraus entwickelte sich ein Konzept, das heute weltweit Aufmerksamkeit bekommt.
Auch in Deutschland gibt es mittlerweile über 250 teilnehmende Geschäfte: Supermärkte wie REWE, EDEKA oder IKEA-Filialen, kleine Läden, Cafés, Second-Hand-Shops, Bibliotheken und Tourist-Informationen. Dieses wachsende Netzwerk zeigt:
Viele Menschen sind bereit, Rücksicht zu nehmen.
Und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie unterschiedlich Wahrnehmung sein kann. Gerade in einer Zeit, in der Lautstärke, Tempo und ständige Erreichbarkeit fast zur Norm geworden sind, ist die Stille ein wertvolles Gut.
Sie schützt nicht nur sensible Menschen, sondern bietet auch Raum für Entschleunigung, Achtsamkeit und Menschlichkeit – Werte, die zunehmend verloren gehen. Oft braucht es nur kleine Veränderungen – wie gedimmtes Licht oder das Ausschalten von Musik –, um große Wirkung zu erzielen. Für sensible Menschen bedeutet das: Sie können dabei sein, ohne sich zu überfordern.
Was wir gemeinsam bewirken können
Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen: Wenn sensible Menschen auf ein Umfeld treffen, das Rücksicht nimmt, blühen sie auf. Sie bringen Ideen ein, helfen mit Weitblick, erkennen Details, die anderen entgehen – und leisten wertvolle Beiträge in Gemeinschaften, Teams und Organisationen. Voraussetzung dafür ist jedoch ein Bewusstsein für Folgendes:
Reizempfindlichkeit ist keine Laune, sondern eine echte Besonderheit.
Viele Arbeitgeber berichten, dass sie durch kleine Anpassungen – etwa Rückzugsräume, flexible Arbeitszeiten oder klare Kommunikation – nicht nur ihre hochsensiblen Mitarbeitenden besser unterstützen, sondern auch insgesamt für mehr Ruhe und Struktur im Team sorgen konnten.
Auch im pädagogischen Bereich zeigt sich, dass Kinder mit feinfühliger Wahrnehmung besonders dann aufblühen, wenn sie nicht überfordert, sondern verstanden werden.
Die stille Stunde kann also als Symbol stehen.
Für einen neuen Umgang mit Wahrnehmung, mit Verschiedenheit – und mit der Art, wie wir zusammenleben wollen.
Deshalb ist es wichtig, nicht nur über Reize zu sprechen, sondern auch über Chancen.
Die stille Stunde ist mehr als nur Rückzug.
Sie ist ein Raum, in dem Sensibilität willkommen ist – und in dem neue Verbindungen entstehen können.
Die Stille Stunde kann ein Vorbild für andere Lebensbereiche sein. Wenn wir erkennen, dass einfache Veränderungen Großes bewirken, entsteht Spielraum für echte Inklusion. Damit Rücksicht und Sensibilität nicht Ausnahme, sondern Alltag werden, braucht es Bewusstsein, Offenheit und Mut zur Veränderung.
- Unternehmen ermutigen, stille Stunden einzuführen
- Schulen und Kitas über Reizverarbeitung informieren
- Ärztliches und therapeutisches Personal besser schulen
- Gesellschaftlich das Bewusstsein für sensorische Empfindsamkeit stärken
Ein Dank an die, die vorangehen
Viele große und kleine Unternehmen zeigen bereits, dass es möglich ist, Inklusion auch im Alltag sichtbar zu machen. Ihr Engagement macht Mut. Durch einfache Maßnahmen wird ein Zeichen gesetzt: Jeder Mensch darf sich wohlfühlen. Jeder Mensch darf dazugehören.
Ein besonderer Dank gilt dem Verein „gemeinsam zusammen e.V.“, der sich für die Verbreitung der stillen Stunde einsetzt. Über die Seite www.stille-stunde.com können sich Geschäfte kostenlos registrieren, ein Infopaket herunterladen und Teil dieser wertvollen Bewegung werden.
Jede stille Stunde ist ein Schritt hin zu mehr Miteinander.
Und zu einer Gesellschaft, in der sensible Menschen sich sicher fühlen dürfen.
Gabor Paranai, EMB®, HSP-Beratung & Coaching für Erwachsene und Kinder, www.gabor-paranai.com, Netzwerkmitglied für 93413 Cham (D)
Bücher für hochsensible Menschen
Quelle zum Text: https://www.stille-stunde.com/