Werden die Menschen immer sensitiver und sensibler?

(Von Martin Bertsch – b02) Wie viele sind eigentlich hochsensibel, respektive hochsensitiv? Und werden die Menschen immer sensitiver?
Die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron schätzte zu Beginn ihrer Arbeit zum Thema Hochsensitivität Ende der 1990-er Jahre, dass rund 15-20% der Menschen hochsensibel sind. Rund zwanzig Jahre später spricht der führende Hochsensibilitäts-Forscher Prof. Michael Plüss von ca. 30%.
Als ein Kollege erwähnte, dass wohl die Menschen insgesamt immer sensibler werden, war ich zunächst kritisch.
Erst als ich vertiefter über die Zusammenhänge von Bewusstseinsentwicklung und Sensitivität nachdachte, erkannte ich Zusammenhänge. Es erschien mir immer plausibler, dass hier ein Zusammenhang bestehen muss.
Es liegt auf der Hand, dass unsere Vorfahren vor 15.000 Jahren bezüglich Bewusstsein (etwa Selbstreflexivität, Empathie und assoziatives Denken) nicht denselben Entwicklungsstand hatten wie wir heute.
Bewusstseinsentwicklung als Prozess zu mehr Sensitivität
Der Bewusstseinsforscher Jean Gebser erkannte in seinen kulturwissenschaftlichen Studien, dass das Bewusstsein unserer Vorfahren markante Unterschiede zu unserem heutigen aufwies. Nach ihm entfaltete sich das Bewusstsein sprunghaft in Stufen: vom archaischen, unbewussten Zustand bis hin zum gegenwärtig dominierenden rationalen und zukünftigen integralen Bewusstsein.
Später entwarf der Psychologie Professor Clare W. Graves, ein Weggefährte von Abraham Maslow, ein noch facettenreicheres Bild von verschiedenen Bewusstseinszuständen. Diese Theorie erlangte durch Don Beck und Cris Cowan unter dem Begriff Spiral Dynamics breite Anerkennung (Quelle siehe unten).
Zusammenfassend kann der Prozess der Bewusstseinsentwicklung als ein Weg von einem personalen, egozentrischen Sein mit dem Fokus auf dem instinkthaften Überlebenswillen hin zu einem transpersonalen, weltzentrischen Sein mit einer Aktivierung von transzendent-spirituellen Bewusstseinspotenzialen beschrieben werden.
Der Neandertaler und frühe Urmensch musste im alltäglichen Überlebenskampf ein dickes Fell haben. Im Kontext von allgegenwärtigen Umweltgefahren war eine enorme Robustheit gefragt. Heute kann sich im Schutz der modernen Zivilisation und Kultur ein Bewusstsein entwickeln, das in vielerlei Hinsicht komplexer und feinfühliger ist.
Viele Hochsensitiven zugeschriebene Fähigkeiten wie subtile Sinneswahrnehmungen, Sinn für Ästhetik, feinmotorisches Geschick, gute Intuition, reichhaltiges Innenleben, hohe Selbstreflexivität, assoziatives vernetztes Denken, hohe emotionale Intelligenz und Einfühlungsvermögen (hohe Aktivität der Spiegelneuronen), Gewissenhaftigkeit und ethische Grundhaltung, Harmoniebedürfnis etc. passen auffällig zu höheren Bewusstseinsstufen.
Und dem, was Jean Gebser und Ken Wilber als aufkeimendes integrales Bewusstsein charakterisiert haben.
Bereits 2017 habe ich deshalb im Rahmen einer Hochsensibilitäts-Tagung darauf hingewiesen, dass Sensitivität eine Zugangskompetenz für integrales Bewusstsein ist.
Die Entwicklung von Bewusstsein und Sensitivität
Diese Hypothese darf uns aber keineswegs zum Irrglauben führen, dass Hochsensible besser seien als andere. Der bemerkenswerte Untertitel der anonymen Buchautorin Valencia B. «Alle Narzissten sind hochsensibel, aber nicht alle Hochsensiblen sind Narzissten» bringt diese Gefahr und spezifische Herausforderung auf den Punkt.
Für hochsensitive Menschen geht es darum, uneigennützig Mitgefühl und die Herzens-Ebene zu entwickeln.
Aus einer demütig spirituellen Hingabe kann sich der Hochsensitive damit für die Menschheitsentwicklung nützlich machen. Gerade in der heutigen Zeit, wo oft das Gefühl entsteht, dass der Mensch bewusstseinsmässig in einer Rückwärts-Bewegung gefangen ist, ist diese Entwicklung bitter notwendig.
Meiner Meinung nach geht es heute nicht hauptsächlich um politische Protest-Aktionen und eine Rebellion gegen eine ökologische Verrohung. Vielmehr geht es darum, einen Wandel in unserem Inneren zuzulassen.
Es geht darum, unsere eigenen Schatten zu integrieren und damit die Grundlage für eine gesunde und nachhaltige Bewusstseinsentwicklung zu legen.
Martin Bertsch, Coach, Netzwerkmitglied für 3011 Bern (CH), www.visionsschmiede.ch
Bücher für hochsensible Menschen
Quellennachweis: https://en.wikipedia.org/wiki/Spiral_Dynamics
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Ja, Studien und Beobachtungen deuten darauf hin, dass der Anteil hochsensibler Menschen steigt. Während Elaine Aron in den 1990er Jahren von etwa 15 bis 20 Prozent sprach, gehen heutige Schätzungen von bis zu 30 Prozent aus. Dies könnte mit der allgemeinen Bewusstseinsentwicklung in unserer Gesellschaft zusammenhängen.
Mit zunehmender Bewusstseinsentwicklung wachsen auch Empathie, Selbstreflexion und emotionale Intelligenz. Hochsensible Menschen weisen viele dieser Merkmale verstärkt auf, weshalb ein Zusammenhang zwischen höheren Bewusstseinsstufen und gesteigerter Sensitivität naheliegt.
Nicht zwangsläufig. Hochsensibilität kann mit einem höheren Bewusstseinsniveau einhergehen, doch sie ist kein Garant für spirituelle Reife. Entscheidend ist, wie bewusst und verantwortungsvoll jemand mit seiner Sensitivität umgeht.
Dazu zählen feine Sinneswahrnehmung, ausgeprägte Intuition, ein reiches Innenleben, hohe Selbstreflexion, Empathie, Gewissenhaftigkeit, Sinn für Ästhetik und ethische Werte. Diese Eigenschaften zeigen sich oft besonders deutlich bei Menschen, die sich auf der Ebene des integralen Bewusstseins bewegen.
Sie können zu einer tieferen, nachhaltigen Bewusstseinsveränderung beitragen, indem sie Mitgefühl, Achtsamkeit und ethisches Handeln fördern. Anstatt sich zurückzuziehen oder zu rebellieren, geht es darum, innere Prozesse bewusst zu gestalten und als Vorbild für einen kulturellen Wandel zu wirken.