Hochsensibilität bei Männern und Jungen

Hochsensibilität bei Männern und Jungen, Fachartikel
Alexander Hohmann
Ein Beitrag von Alexander Hohmann

(aho-db145) Das Thema „Hochsensibilität bei Männern“ ist in Deutschland noch sehr wenig beleuchtet. Die Literatur ist minimal (vgl. Tom Falkenstein: „Hochsensible Männer“, Junfermann Verlag. Christoph Weinmann: „…spürbar anders!?: Potenzial und Widersprüche hochsensibler Jungen und Männer“, Novum Verlag). Die Medien berichten bei Hochsensibilitätsthemen weiterhin vor allem über Frauen.

Gegenüber Männern sind aber auch heute noch geringschätzige Vokabeln wie „Waschlappen“ und „Weichei“ nie weit.

“Sei ein Mann!” bleibt eine weiterhin beliebte Maßnahme zur Männerverhaltenssteuerung durch Beschämung. Niemand sagt einer Frau, „sei eine Frau!“

Erschwerend kommt oft ein Mangel an Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen hinzu. In einer aufmerksamkeitsgierigen Zeit fühlen sich zurückhaltende, nachdenkliche Menschen unsichtbar, schlimmstenfalls überflüssig. Das kann in einen Teufelskreis der Vereinsamung führen. Die Suizidrate ist unter Männern um ein Vielfaches höher als bei Frauen.

Dr. Elaine Aron schreibt etwa in ihrem Buch über hochsensible Menschen in der Psychotherapie, dass es vielleicht nicht zwei, sondern vier Geschlechter gibt, nämlich Frauen, Männer, hochsensible Frauen, hochsensible Männer, und dass es von der kulturellen Akzeptanz her die hochsensiblen Männer wahrscheinlich am schwersten haben. Wenige Frauen wissen, auf wie viele Weisen das Erleben dieser Männer dem vieler Frauen ähnelt, und wie tief es hochsensible Männer verletzen kann, wenn Frauen ganz allgemein “die Männer” abwerten und verunglimpfen.

Viele Eigenschaften, die mit einer hohen Empfindsamkeit einher gehen, werden weiterhin kulturell gern als “weiblich” betrachtet.

Viele Inhalte im Internet werden von Frauen geschrieben, die vor allem mit Frauen arbeiten und über deren Erleben berichten. Diese Beschreibungen werden als allgemeingültig hingestellt. Aber hochsensible Männer finden sich darin oft nicht wirklich wieder. Die männlichen Erlebensformen der Hochsensibilität bleiben weitgehend unbeschriebenes Neuland.

Männer haben nicht weniger als Frauen einen Anspruch auf ein reiches Innenleben. Fühlen bedarf keiner Rechtfertigung. Hochsensible Männer könnten eine Rolle dabei spielen, die Vielfalt der inneren Regungen für ihre Geschlechtsgenossen zu erforschen. Denn über lange Zeiten war die mehr oder weniger einzige Emotion, die Männern „erlaubt“ war, die Wut. So werden dann auch bei Freude oder Trauer die Fäuste geballt. Diese „emotionalen Verschiebungen“ gilt es, wieder rückgängig zu machen und sich das gesamte Emotionsspektrum zurück zu holen.

Bei der erforderlichen Wiedervereinigung des männlichen und des weiblichen Prinzips (was auch immer Sie darunter verstehen möchten) könnten hochsensible Männer eine wichtige Vorreiterrolle spielen.

Sie könnten auch eine wichtige Rolle darin haben, das Beste in Frauen aufblühen zu lassen.

Die Paartherapeutin Esther Perel stellte einmal eine häufige Beobachtung bei ihren sensiblen männlichen Klienten fest: Wenn sie in ihrer Kindheit Gewalt zwischen ihren Eltern erlebt haben, dann sind sie später häufig von ihrer männlichen Energie abgeschnitten, denn sie wollen „niemals so sein“. Dadurch schneiden sie sich aber auch von den guten Seiten von Aggressionsenergie ab: Tatkraft, Antrieb, Entschlossenheit, Durchhaltevermögen. Schlimmstenfalls werden sie zum antriebs- und orientierungslosen Spielball ihres Umfelds, machen ihr eigenes Selbstwertgefühl völlig von den Bewertungen durch Dritte abhängig, resignieren vielleicht in einer Partnerschaft, in der sie “nichts zu melden haben”. Dann passen sie zu einer kontrollsüchtigen und/oder narzisstischen Partnerin (oder einem solchen Partner), so wie das ja auch umgekehrt gern geschieht.

Oder ihre Partnerin mag nach einer Weile nicht mehr die einzige Impulsgeberin der Beziehung sein und wird auf Abstand gehen. Oder vielleicht haben sie auch gar keine Partnerin, entziehen sich der Welt oder versinken sogar im Riesenangebot digitaler Ablenkungen oder einfach in Alkohol und anderen Substanzen.

Erschreckend viele junge Männer verlieren sich heute noch bis weit in ihre Zwanziger in Videospielen, statt leben zu lernen.

Hier ist Schattenarbeit erforderlich, also der Blick ins Verdrängte. Denn die Quelle des eigenen Antriebs liegt im “Schatten” – und damit auch der Zugang zum eigenen Lebensziel und zur Lebensfreude. Ausgerechnet diesen gefürchteten Teil gilt es, sich wieder anzueignen, um in die eigene Energie zu kommen.

Das bessere Lernen des Zugangs zu den eigenen Emotionen funktioniert am besten im sicheren Raum. Die Partnerschaft ist oft nicht dieser sichere, urteilsfreie Raum. Besser klappen die ersten Schritte mit männlichen Freunden, die sich darauf einlassen, oder in einer Männergruppe. Wichtig ist ein Umfeld, in dem sie keine Beschämungen befürchten müssen. Denn mit Beschämtwerden kennen sich Männer sehr gut aus und machen dicht. Ist dann erst einmal mehr Sicherheit im Lesen des eigenen Innenlebens da, können die neuen Erfahrungen in die Partnerschaft eingebracht werden.

Das Aufbauen des Sich-Lesens und Sich-Erlebens verändert das niedrigauflösende Grummeln in ein hochauflösendes Bild des eigenen Gefühlslebens. Das mag sich manchmal noch ein bisschen unbedarft anfühlen, aber das ist in Ordnung. Denn immerhin sind das Dinge, die die männlichen Ahnen nicht konnten und für die es kaum Vorbilder gibt, oft nicht einmal den eigenen Vater. Das ist Pionierarbeit. Und vielleicht schauen die Ahnen dabei neugierig und sogar mit Stolz über die Schulter ihres wagemutigen Nachfahren.

Für hochsensible Männer besonders wichtig ist es, einen Sinn in ihrem Dasein zu erkennen, gar eine „Mission“.

Wofür bin ich hier? Dieser Sinn hat bei hochsensiblen Menschen oft damit zu tun, sich in den Dienst anderer Menschen oder Lebewesen oder eines größeren Ganzen zu stellen. Hochsensible Männer haben eher wenig Interesse an den “offiziellen” Erfolgskriterien Geld, Macht und Ruhm. Wenn sie sich dem wahren Sinn des eigenen Daseins nicht bewusst werden oder zu weit davon entfernt leben, kann sich das Leben ganz schön leer anfühlen. Dann lässt sich ein Mann möglicherweise treiben, weil er kein inneres Zentrum hat, das ihm Stabilität und Richtung gibt. Wie ein Schiff, das nie die Segel setzt.

Hat der hochsensible Mann seinen Weg gefunden und beschreitet er ihn, kann er trotz aller Hürden viel Erfüllung finden. Geduld ist eine sinnvolle Verbündete. Weitere Verbündete findet man, wenn man sich Hilfe bei Coachs oder Therapeuten sucht. “Ich muss das allein hinkriegen” ist ein veraltetes Missverständnis. In früheren Zeiten waren Männer auch immer in Gemeinschaften und Kamaraderien eingebunden und waren von Hilfe umgeben.

Den Jungen und jungen Männern, die mit ihrer Hochsensibilität hadern, sei auch gesagt:

Es wird mit den Jahren leichter.

Nur sollte man irgendwann ins Handeln kommen. Wer um die 30 ist, sollte nicht mehr damit warten, von den bisherigen Holzpfaden und Ablenkungen weg zu seinem eigenen Weg zu finden und sein Leben aufzubauen, und dabei seine Sensitivität gut zu integrieren, statt sie als Last zu sehen und mit ihr zu hadern.

Auch in höherem Alter bleibt immer fast alles möglich.

Dinge brauchen nun einmal ihre Zeit. Zwar kann es schwerer fallen. Es hat dann vielleicht bereits eine Reihe verpasster Gelegenheiten gegeben, die man sich erst einmal mit Wohlwollen und Selbst-Empathie vergeben muss. Allerdings kommt mit dem Alter auch die Erfahrung. Sie lässt uns besser die Abkürzungen und Sackgassen sehen und wirksamer werden. Und weil man schon häufig an die eigenen Grenzen gestoßen ist, fällt es leichter, die eigene Verwundbarkeit zuzulassen.

Wer keine Lösungen sucht, wird nur seine eigenen offenen Fragen an die nächste Generation weitergeben. Spätestens, wenn solche Männer dann einen Sohn haben, kommt die Frage hoch, was sich der Sohn vom Vater abschauen soll:

Am besten eine vorgelebte, gesunde, liebevolle, selbstwirksame und vollständige Männlichkeit, gewaltfrei und dennoch voller Energie.

Alexander Hohmann, Life- und Businesscoach
Netzwerkmitglied für 79117 Freiburg (D), www.alexander-hohmann.de


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2 Kommentare

  1. Ich mache mir heute keine großen Gedanken, wenn es um Kategorien geht – vor allem in Bezug auf das Geschlecht.

    Letztendlich ist für mich die Frage entscheidend, ob ich Sinnhaftigkeit in meinem Alltag erkennen und meine Gefühle so ausleben/ausdrücken kann, wie es für mich stimmig ist.

    In diesem Zusammenhang hat mir sehr geholfen, innere Barrieren & negative Glaubenssätze zu erkennen und zu benennen. Danach begann ich, alle Eigenschaften in mein Selbstbild zu integrieren und jenen inneren Widerstand abzubauen, der mich daran hinderte, das Leben mehr zu genießen.

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