Hochsensibilität: Habe ich ein Mikrotrauma?

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(nfe-db147) Mikrotrauma trotz glücklicher Kindheit: „Ich hatte eigentlich eine glückliche Kindheit. Es gibt Menschen mit einer viel schlimmeren Kindheit, die trotzdem keine Therapie brauchen.“

Nicole Fehrenbacher, Netzwerkmitglied, Profilbild
Ein Beitrag von Nicole Fehrenbacher

(Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um (Mikro-)Traumata. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.)

Eine schwere Kindheit oder Traumata können im Erwachsenenalter psychische Störungen auslösen – das ist mittlerweile recht weit verbreitetes Wissen. Doch was ist mit den Menschen, die „eigentlich eine ganz glückliche oder normale Kindheit“ hatten? Einige von Ihnen entwickeln trotz eigens erklärter „glücklicher“ Kindheit und keinen großen Traumata trotzdem Depressionen, Angststörungen, Essstörungen & andere psychische Störungen. Andere entwickeln zwar keine diagnostizierte Störung, haben aber trotzdem lange an vielen Themen „zu knabbern“. Das kann an sogenannten Mikrotraumata liegen, also seelischen oder körperlichen Verletzungen, die meist wiederholt und auf subtilere Art geschehen und von den Betroffenen als Grenzverletzung und Überforderung erlebt werden. In diesem Artikel geht es darum, wie Mikrotraumata in der Kindheit entstehen können und welche Auswirkung das im späteren Leben auf Hochsensible haben kann.

Hochsensible erleben, fühlen und verarbeiten intensiver – So auch gute wie schlechte Erfahrungen ihrer Kindheit. Laut Elaine Aron leiden Hochsensible im Vergleich zu anderen Menschen besonders unter den Folgen einer schweren Kindheit, aber dagegen profitieren Hochsensible oftmals auch besonders von einer glücklichen Kindheit.

Die „glückliche Kindheit“

Doch was ist eigentlich genau eine glückliche Kindheit? Die meisten Menschen, die von einer glücklichen Kindheit berichten, meinen damit zum einen die Abwesenheit von starken Traumata (wie bspw. Tod, Verlassenwerden, Drogensucht, Gewalt von nahestehenden Bezugspersonen). Zum anderen wird mit einer glücklichen Kindheit oftmals eine ausreichende emotionale wie körperliche Versorgung impliziert – ausreichend Zuwendung, Aufmerksamkeit, Freiraum, Unterstützung durch Eltern oder nahestehende Bezugspersonen.

So entsteht ein Mikrotrauma

Der renommierte Trauma-Forscher Dr. Gabor Maté hinterfragt in diesem Zusammenhang den Begriff der „glücklichen Kindheit“ und unterscheidet zwischen den Begriffen „Trauma“ (mit großem T) und „trauma“ (mit kleinem t). Als „Trauma“ klassifiziert er die allgemein anerkannten, großen Trauma– Tod oder Trennung von einem Elternteil, Gewalt, sexueller Missbrauch, massive Vernachlässigung, drogenabhängige Eltern, etc. Das kleingeschriebene “trauma“ oder auch Mikrotrauma resultieren nach ihm auch bereits daraus, wenn einige wichtige Bedürfnisse von Babys und Kindern nicht oder nur unzureichend erfüllt worden sind.

Denn als Babys und Kinder sind wir gänzlich auf unsere Bezugspersonen angewiesen – unsere Bedürfnisse, nach Nahrung, Schutz, Liebe, Zuwendung können wir noch nicht eigenständig erfüllen. Werden diese angemessen befriedigt, dann kann das Baby oder Kind eine positive Beziehung zu sich („Ich bin liebenswert, man kümmert sich um mich“), zu anderen Mitmenschen („Ich kann anderen Menschen vertrauen, andere Menschen sind gut“) und der Welt („Die Welt ist ein sicherer, schöner Ort“) entwickeln.

Wenn nicht adäquat auf diese Bedürfnisse eingegangen wird, schlussfolgert das Baby oder Kind oftmals auf einer unbewussten Ebene, dass es nicht so wichtig ist, dass es nicht liebenswert genug ist.

Und dementsprechend entwickelt es ein negatives Selbstbild, ein negatives Bild von der Welt, sowie von anderen Menschen. Nach Gabor Maté ist die Wahrscheinlichkeit, stärker unter diesen Mikrotraumata zu leiden und aufgrund dessen psychische Probleme zu entwickeln, bei Hochsensiblen besonders hoch.

Ein Beispiel dafür ist die Erziehungspraxis – die teilweise immer noch in abgeschwächter Form in einigen Erziehungsratgebern empfohlen wird – das Baby schreien zu lassen, damit es „lernt, alleine einzuschlafen.“ Was lernt das Baby, wenn es schreien gelassen wird? Es ist überwältigt von seinen Emotionen, für die es erwachsene Personen braucht, um sich zu beruhigen und regulieren zu können. Es wird mit diesen Emotionen alleine gelassen und der kleine Körper ist voller Stresshormone, es lernt, dass das was es braucht, ihm von seinen Mitmenschen und der Welt verwehrt wird und entwickelt bei ausreichender Wiederholung dieser Praktiken ein negatives Selbstbild.

Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit Wut bei Kindern – Wie war das bei dir zu Hause? Wurdest du in deiner Wut emphatisch begleitet? Viele Kinder wurden und werden bei Wutanfällen immer noch separiert – auf ihr Zimmer geschickt, und wenn sie sich beruhigt haben, dürfen sie wieder herauskommen. Was ein Kind dabei auf einer tiefen Ebene lernt:  Ich (denn meine Emotionen sind ja ein Teil von mir) bin nicht in Ordnung und darf diese Emotionen nicht zeigen, da ich sonst verstoßen werde. Viele Menschen beginnen in Folge dessen, ihre Wut zu unterdrücken, von sich abzuspalten, um akzeptiert und geliebt zu werden, was im späteren Leben ebenfalls zu Depressionen führen kann.

Das sind nur zwei von unzähligen Arten, wie trotz scheinbar glücklicher Kindheit Mikrotraumata entstehen können. Für weitere Selbstforschung können die folgenden Fragen wertvolle Wegweiser zu möglichen Kindheitsmikrotraumata sein:

  • Gab es immer jemanden, an den ich mich wenden konnte, wenn es mir schlecht ging?
  • Wurde ich in meinen Sorgen und Ängsten ernst genommen?
  • Wurde ich öfters alleine gelassen?
  • Wurde respektvoll und verständnisvoll mit meiner (Hoch-)Sensibilität umgegangen?

Außerdem haben hochsensible Kinder besonders feine Antennen und spüren all das Ungeklärte, all den (emotionalen) Ballast, den die Eltern mit sich tragen. Dabei haben hochsensible Kinder eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, diesen elterlichen Ballast zu internalisieren, also in sich aufzunehmen.

Mögliche Konsequenzen von Mikrotraumata bei Hochsensiblen

Im Erwachsenenalter können als Folge von Mikrotraumata verschiedenste Symptome bei Hochsensiblen auftreten: Ein verringertes Selbstwertgefühl oder ein ungesunder Umgang mit den eigenen Emotionen, wie bspw. die Unterdrückung der eigenen Wut. Auch der Eindruck, sich das Gefühl, wertvoll und liebenswert zu sein, „erarbeiten“ zu müssen – bspw. durch eine starke Fokussierung auf die Erfüllung der Bedürfnisse anderer Menschen mit gleichzeitiger Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse können ein Resultat davon sein. Aber auch psychische Krisen, Depressionen, starke Ängste oder auch Süchte, Essstörungen, etc. zählen zu den möglichen Konsequenzen.

Dabei machen sich die Betroffenen oftmals Selbstvorwürfe, zu schwach, zu labil, nicht belastbar genug, zu (hoch-)sensibel zu sein – Was oftmals eine Internalisierung der Kritik ist, die wir in vielen Fällen lange von unserem Umfeld gehört haben – und irgendwann übernehmen unsere eigenen Gedanken diese (Selbst-)Kritik.

Falls du also in deinem Leben mit psychischen Herausforderungen konfrontiert bist:

Es ist nicht deine schuld!

Du brauchst dich nicht dafür zu schämen. Du hast den Anspruch auf professionelle Hilfe, ob in Therapie oder Coaching. Achte bei der Wahl eines Therapeuten oder Coaches darauf, dass diese Person ein grundlegendes Verständnis von Hochsensibilität hat, denn nicht selten werden bei Hochsensiblen falsche Diagnosen gestellt oder ihre Hochsensibilität wird als Teil des Problems gesehen. Und das ist in etwa so effektiv, wie in einer Therapie die blauen Augen einer Person als Problem anzuerkennen und diese verändern zu wollen.

Die besondere Chance, die für Hochsensible in der Aufarbeitung der eigenen Mikrotraumata liegt, ist ein unglaublicher Beitrag zur Heilung der kollektiven (Mikro-)Traumata der Gesellschaft. Das hört sich vielleicht etwas übertrieben und pathetisch an – Aber:  Ungelöstes Trauma wird (unterbewusst) immer an die nächste Generation weitergegeben. Nach dem Motto „Hurt people hurt people“ (dt. „Verletzte Menschen verletzen Menschen“.).

Wenn du also an dir arbeitest und etwas weniger Traumata an deine Kinder weitergibst, wird die Welt zu einem heileren, gesünderen Ort.

Aber bitte, mach dir keinen Druck – Denn wenn du das an dich weitergegebene (Mikro-)Trauma durch Aufarbeitung etwas verringerst, hast du damit der Welt schon ein großes Geschenk gemacht. Indem Kinder eine gesündere Beziehung zu sich selber und ihren Mitmenschen entwickeln können. Dann wird es immer weniger Trumps und Putins geben und der ewige Kreislauf von Trauma Weitergabe abgeschwächt und letztendlich vielleicht durchbrochen werden. „When you heal, you heal the world“ – Durch deine Sensibilität kann das (zu einem Stück) aufgearbeitet werden und geändert werden, was uns als Menschheit krank macht und uns von uns selbst trennt. Die Arbeit an dir selbst ist so unglaublich wertvoll.

Nicole Fehrenbacher, Coach für Hochsensibilität & Berufung finden, www.NicoleFehrenbacher.com, Netzwerkmitglied für 40699 Erkrath (D)


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